Die Alzheimer Selbsthilfe e.V. ist eine privat initiierte, verbands- und trägerunabhängige, gemeinnützige Organisation für Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind sowie ihre pflegenden Angehörigen und Bezugspersonen.
Die Alzheimer Selbsthilfe e.V. bietet telefonische Informationen und Beratungsgespräche für Angehörige und Pflegende nach Terminvereinbarung an. Gerne beantworten wir auch Ihre E-Mail-Anfragen.
Die Alzheimer Selbsthilfe e.V. bietet zurzeit keine Gesprächskreise für Angehörige von Menschen mit Demenz an.
Die Angebote
– im Hildegardiskrankenhaus, Köln-Lindenthal
– in der Weidenhof Residenz, Köln-Weiden
– im evang. Krankenhaus Köln-Kalk (ehemals Gesprächskreis der Alzheimer Gesellschaft Köln e.V.)
können aufgrund personeller Engpässe nicht durchgeführt werden.
Auf der Seite aktuelle Beiträge veröffentlicht die Alzheimer Selbsthilfe e.V. aktuelle Informationen rund um das Thema Demenz und Alzheimer.
„Sind Sie meine Tochter?
– Erinnerungen an das Leben mit meiner alzheimerkranken Mutter“
Taschenbuch ISBN: 978-3-00-060259-7
ebook ISBN: 978-3-00-048587-9
Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage des Bestsellers
„Sind Sie meine Tochter? – Leben mit meiner alzheimerkranken Mutter“
(Rowohlt Verlag 2006).
Herausgeber:
Gabriela Zander-Schneider
Der Erlös aus dem Verkauf des Buches kommt der Alzheimer Selbsthilfe e.V. zugute.
Wie fühlt es sich an, wenn eine Mutter die eigene Tochter nicht mehr erkennt?
Hat die neue Partnerschaft eine Chance trotz ständiger Überlastung durch die Pflege der demenzkranken Mutter?
Wie geht man um mit den Vorwürfen Außenstehender, die alles besser wissen und doch zur Pflege nichts beitragen?
Was tun, wenn man feststellt, dass die Mutter Opfer von Pflegemissständen wird?
Einfühlsam und offen schildert die Autorin die schleichende Persönlichkeitsveränderung ihrer Mutter, den langen Weg zur Diagnose und die großen Herausforderungen, die Betreuung und Pflege ihr abverlangten.
Sie lässt uns teilhaben an ihren Gefühlen und Gedanken, an der Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Vergangenheit, dem schier endlosen Abschied und der Aussöhnung am Sterbebett. Das Erlebte hat tiefe Spuren hinterlassen und doch ihre Sicht auf das Leben positiv verändert.
Gabriela Zander-Schneider ist Autorin zahlreicher Publikationen und erfolgreicher Bücher.
Für ihr soziales Engagement wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz.
Leseprobe
Ein ganz normaler Tag
Hab’ ich alles? Kaffeemaschine aus? Handtasche? Portemonnaie? Papiere? Autoschlüssel? Ich denke schon. Gott sei Dank! Endlich! Wir könnten losfahren. In einer halben Stunde ist der Termin beim Arzt, monatelang herbeigesehnt und mit Ungeduld erwartet. Angeblich DER Experte in der Diagnostik und Behandlung demenzkranker Menschen. Hoffentlich ist nicht zu viel Verkehr und in der Nähe der Praxis ein Parkplatz zu finden. Tausend Gedanken jagen durch meinen Kopf. Ich bin hochgradig angespannt. Um 10:30 Uhr sollen wir da sein. Seit 5:30 Uhr bin ich auf den Beinen, um auf jeden Fall in Ruhe mit allem fertig zu werden.
Jetzt noch Mutter den Mantel anziehen. Sie steht in der Küche und schaut „höchst interessiert“ aus dem Fenster. Längst habe ich durchschaut, dass ihr nicht bewusst ist, was sie tut. Auf dem leeren Balkon ist nichts zu sehen, was so interessant wäre, es zu beobachten. Sie versucht durch ihr Verhalten eine Fassade aufrechtzuerhalten, die ihr hilft, ihre Würde nicht vollständig zu verlieren.
Was ist das da auf dem Fußboden? Ist irgendetwas ausgelaufen? Suchend sehe ich mich in der Küche um. N E I N! Nicht schon wieder! Mutter ist ausgelaufen! Gleich dreh‘ ich durch. Wie soll ich es schaffen, sie umzuziehen und pünktlich in der Praxis sein? Vier lange Monate haben wir auf den Termin gewartet und jetzt, kurz vor dem Ziel, droht das Vorhaben daran zu scheitern, dass wir nicht rechtzeitig da sein werden. Ich kann nicht mehr. Während ich mich bemühe, ihr so schnell es geht, saubere Kleidung anzuziehen, wehrt sie sich und trommelt mir bei dem Versuch, ihr die Strümpfe überzuziehen, mit den Fäusten auf den Kopf. Am liebsten würde ich sie mit ihrem Mist hier sitzen lassen. Ohne sie könnte ich ein sorgenfreies Leben mit meiner Familie genießen. Hat sie auf mich Rücksicht genommen, wenn sie früher durch die Welt reiste? Alte, längst verdrängte Emotionen und nie geklärte Konflikte zerren mir zusätzlich an den Nerven.
Irgendwie gelingt es mir, sie frisch zu machen. Die schmutzige Wäsche liegt auf dem Boden; es riecht entsprechend. Mutter ist sauber gekleidet und hat eine damenhafte Mine aufgesetzt. Mir hingegen rinnt der Schweiß in kleinen Sturzbächen durchs Gesicht, die Haare kleben mir am Kopf wie die Bluse an meinem Rücken.
Die Zeit, um mich umzuziehen, reicht nicht mehr. Unwichtig. Hauptsache wir schaffen es rechtzeitig zum Termin. Sie anzutreiben ist zwecklos. Sie hat zeit ihres Lebens vornehmlich das gemacht, was sie wollte, und ließ sich nicht „bevormunden“. Eine Charaktereigenschaft, die sich im Lauf ihrer Erkrankung verstärkte. Diese demonstrative Ignoranz mir gegenüber, die sie vorzugsweise dann anwandte, wenn ihr irgendetwas nicht in den Kram passte, ist mir aus meiner Kindheit noch gut im Gedächtnis. Das macht den täglichen Umgang mit ihr nicht leichter.
Es bringt jetzt nichts, darüber zu nachzudenken. Wir müssen uns sputen. ‚Ich schaffe das schon. Sie kann ja nichts dafür. Kann sie wirklich nichts dafür?‘, schießt es mir durch den Kopf. ‚Ich auch nicht!‘, trotze ich in Gedanken. „Mutter, komm doch bitte. Wir müssen uns beeilen.“ Gereizt fordere ich sie zum dritten Mal auf, mit mir die Wohnung zu verlassen. Sie summt leise vor sich hin. Dieses Summen und sich gleichzeitig von mir abwenden, lösen zusätzlich ungute Erinnerungen aus. War das doch ihre ganz eigene Art, Berichte zu kommentieren, die sie nicht interessierten. Bitter ist, dass jetzt, wo sie nicht absichtlich handelt, die gleiche alte Wut in mir hochkommt.
„Los, nun komm doch.“ Ich fasse ihren Arm, um sie zum Wagen zu führen. Erneut versucht sie auf mich einzuschlagen. Am liebsten würde ich zurückschlagen. Ich muss nicht zum Arzt. Ich bin nicht krank. Verdammt noch mal. Erschrocken über meine eigenen Gedanken und Reaktionen zwinge ich mich ruhig zu bleiben und versuche noch einmal, sie zum Einsteigen zu bewegen.
Geschafft! Wir sitzen beide im Auto. Sie summt noch immer und mir rast die Zeit davon. Wie es mir gelungen ist, weiß ich nicht, aber letztlich stehen wir, wenn auch verspätet, an der Rezeption der Praxis. Die hochgezogenen Augenbrauen der Sprechstundenhilfe geben mir den Rest: „Ihr Termin war vor zehn Minuten.“ Mutter grinst und ich bin wieder mal die Dumme, die nichts auf die Reihe zu kriegen scheint. Meine Versuche, der unsympathischen Arzthelferin irgendetwas zu erklären, werden mit der Bemerkung: „Dann müssen Sie halt früher los“ einfach vom Tisch gewischt. Macht sich denn überhaupt jemand Gedanken darüber, was es heißt, einen demenzkranken Angehörigen zu Hause zu pflegen? Tag für Tag, Nacht für Nacht. Egal, ob man es kann und will oder nicht. Das eigene Leben, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse rücken so weit in den Hintergrund, dass sie gar nicht mehr zu existieren scheinen. Gedankenlose Bemerkungen wie diese verletzen, verstärken die Hilflosigkeit und lassen die Hoffnung auf Verständnis und Rücksicht durch die Gesellschaft weiter schwinden.
Gerade von der Mitarbeiterin einer speziell auf Demenzerkrankungen ausgerichteten Praxis erwarte ich mehr Empathie und Einfühlungsvermögen. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahne: In Bezug auf Mitgefühl oder hilfreiche Unterstützung sollte ich noch jede Menge lernen und schmerzhaft erfahren.
Egal. Ich schiebe meinen Ärger beiseite und hoffe inständig, dass der Facharzt an Mutters Zustand irgendetwas ändern oder verbessern kann. „Komm, wir gehen ins Wartezimmer.“ Sie lächelt erhaben und läuft prompt in die entgegengesetzte Richtung. Ich hinterher.
„Da dürfen Sie aber nicht rein“, ruft die patzige, immer noch nichts begreifende Assistentin.
„Danke für den Hinweis. Es wäre mir sicher nicht aufgefallen. Es steht ja deutlich – Kein Zutritt – auf der Tür“, entgegne ich entnervt, meinen Umgangston den der Helferin anpassend.
„Mutter, hier entlang.“ Sanft ziehe ich sie in Richtung Warteraum. Die ganze Zeit summt sie leise vor sich hin. Irgendeine Ballermann-Schnulze. Mein Gott, was mache ich hier? Wenn das noch lange so weitergeht, muss ich bald selbst zum Nervenarzt. „Komm, wir setzen uns hier hin und lesen die Zeitung.“ Denkste. Mutter bemerkt die Aufmerksamkeit der Patienten im Wartezimmer und geht wohl davon aus, dass es sich um ihr Publikum handelt oder wir uns zumindest auf einer heiteren Veranstaltung befinden. Jedenfalls lässt sie sich nicht mehr von mir anfassen. Weder, um ihr den Mantel auszuziehen, noch, um sie zum Stuhl zu führen. Inzwischen bin ich zum zweiten Mal durchgeschwitzt. Ein Dutzend Augenpaare sehen uns an. Ich fühle mich genötigt, den anwesenden Personen ihr Verhalten zu erklären. Entschuldigend stammele ich irgendetwas vor mich hin. Sie lacht gereizt. Den Leuten ist die Situation sichtlich unangenehm. Und mir erst. Am liebsten würde ich unter dem Teppichboden verschwinden. Nur Mutter genießt die Aufmerksamkeit. Nach einiger Zeit schläft das Interesse an unserem Auftritt glücklicherweise ein. Sie setzt sich. Um sie zu beschäftigen, reiche ich ihr eine der für Wartezimmer unverkennbaren Zeitschriften.
„Hier hast du eine Zeitung.“
„Kenn ich schon!“
„Hier ist eine andere.“
„Kenn ich schon!“
Das nachlassende Interesse ihres Publikums wieder in Schwung zu bringen, ist ihr wichtiger.
Meine Nerven liegen blank und lassen meiner Fantasie freien Lauf. Was ist, wenn hier jetzt das Gleiche wie daheim in der Küche passiert? Im Geiste sehe ich, wie es den Stuhl herunterrinnt.
Jede Minute, die wir im Wartezimmer verbringen, wird zur Zerreißprobe. Für mich! Nicht für Mutter.
Wir werden aufgerufen! Wir nähern uns meiner großen Hoffnung in diesem aussichtslosen Unterfangen. Der Arzt macht zunächst einen sympathischen Eindruck. Erleichtert, endlich mit ihm reden zu können, warte ich gespannt auf seine Stellungnahme und Therapievorschläge. Nachdem er die mitgebrachten Untersuchungsergebnisse überflogen hat, kommentiert er jedoch recht gleichgültig: „Na ja, die Diagnose kennen Sie ja.“ Mutter nickt bestätigend. Schweigend blättert er in den Unterlagen.
„Wissen Sie, da kann ich Ihnen, ehrlich gesagt, auch nicht weiterhelfen. Wirkungsvolle Therapien gibt es nicht. Und die Medikamente … Ich bezweifele, dass die tatsächlich helfen.“ Nach einer eindrucksvollen Unterbrechung setzt er noch eins drauf: „Und sauteuer sind die auch. Aber wenn es Ihr Gewissen beruhigt“, wieder hält er einen Moment inne. „Ich kann sie ja mal aufschreiben.“ Ohne aufzuschauen, zieht er den Rezeptblock aus der Schublade und kritzelt hastig etwas darauf. Nach einer weiteren kurzen Pause fährt er gleichgültig fort und sieht mir dabei das erste Mal ins Gesicht: „Ach, und noch was! Das wird noch viel, viel schlimmer.“
Mutter lächelt ihn zustimmend an. Zwei Minuten später stehen wir wieder vor der unsympathischen Arzthelferin im Foyer und warten auf das Rezept. Ich habe das Gefühl, dass mir jemand den Boden unter den Füßen wegreißt. Vier Monate habe ich gewartet, um von einem Spezialisten solche mageren Sätze zu hören. Hingeworfene Floskeln, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, was das für die Menschen, die auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzen, bedeutet. Von wegen Hoffnung. Ein Schlag ins Gesicht. Eine Unverschämtheit, ein unverantwortliches Benehmen gegenüber seiner Patientin und deren Angehöriger. Jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr weiter. Ich fühle mich hilflos an die Wand gedrängt, will nur nach Hause, meine Ruhe haben und die Decke über den Kopf ziehen.
Schnell ins Wartezimmer die Mäntel holen. Einen Augenblick später stehe ich wieder im Foyer. Mutter ist weit und breit nicht zu sehen!
„Wo ist sie?“
„Das weiß ich doch nicht. Ich kann doch nicht auf alles aufpassen“, entrüstet sich der lebende Inbegriff der Antipathie wenig hilfsbereit.
„Nein, nicht auf alles, aber für zwei Minuten auf eine demenzkranke Frau“, schnauze ich zurück.
„Was man sich alles bieten lassen muss“, empört sie sich. Es ist mir egal.
Ich laufe ins Treppenhaus. Mutter „unterhält“ sich angeregt mit einem jungen Mann, der sichtlich erleichtert ist, als ich auftauche.
Es ist halb zwei, als wir schließlich im Auto sitzen und nach Hause fahren. Entspannt beobachtet sie den regen Autoverkehr. Der Trubel der vergangenen Stunden ist spurlos an ihr vorbeigegangen. Nachdem ich, daheim angekommen, den Wagen draußen geparkt habe, weigert sie sich auszusteigen. Den Gurt kann sie alleine nicht öffnen. Um ihr behilflich zu sein, beuge ich mich über sie und spüre im gleichen Moment, wie ihre Finger sich in meinen Haaren festkrallen. Ja, ich weiß, sie kann nichts dafür. Tränen schießen mir in die Augen. Vor Wut, vor Schmerz und Erschöpfung.
Auf dem Weg zur Haustür begegnet uns eine Nachbarin. Schnurstracks marschiert Mutter auf sie zu. Die begrüßt sie jedoch nur kurz und sieht mich besorgt an.
„Wie geht es Ihnen? Sie sehen nicht gut aus.“ Mutter ist irritiert, da das Interesse nicht ihr gilt. Sie stößt einen kurzen, grellen Schrei der Verwunderung aus und streckt beide Arme zum Himmel. Erschrocken schauen auch wir nach oben. Das aufsehenerregende Ereignis entpuppt sich als Taube, die aufs Dach fliegt. Sie lächelt zufrieden, ist es ihr doch gelungen, die Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Wir verabschieden uns und gehen ins Haus.
Mir zittern die Knie. Ich bin hungrig und ziemlich fertig. Schnell wärme ich das vorbereitete Mittagessen und serviere ihr das Essen in ihrem Wohnzimmer, wo sie bereits erwartungsvoll vor dem gedeckten Tisch sitzt. Ich brauche jetzt Ruhe und ziehe es vor, allein in unserer Wohnung zu essen. Es ist mir im Augenblick auch egal, ob sie wieder mit den Fingern isst, die Limonade auf den Teller gießt oder die Kartoffeln unter die Tischdecke schiebt. Ich bin enttäuscht vom Verlauf des Vormittags, ratlos und niedergeschlagen. Habe ich mir zu viel versprochen von diesem Arztbesuch? Definitiv, denn er hat nicht dazu beigetragen, meine Ratlosigkeit zu mindern. Zumindest eine Empfehlung hatte ich mir erhofft, die hilft, mit den Herausforderungen fertig zu werden, und mir die Last, die ich nicht tragen will, lindert.
Das, was ab und an über Alzheimer auf den Gesundheitsseiten der Klatschblätter oder in Apotheken-Zeitungen zu lesen ist, bezieht sich vorwiegend auf die Vergesslichkeit, die das kleinste Problem ist. Medizinisch fundierte Berichte hingegen, die ich im Internet finde, informieren über die ersten Symptome, über den weiteren Verlauf und eventuelle medikamentöse Therapien. Keine Zeile darüber, wie Angehörige im häuslichen Umfeld mit den Herausforderungen umgehen können. Nichts, was sich praxistauglich im Alltag umsetzen lässt.
Es tut mir weh zuzusehen, was die Krankheit aus ihr macht. Es bedrückt mich, daran nichts ändern zu können. Ich bin verzweifelt, weil mich die Situation, der Umgang mit ihr und die Betreuung überfordern. An den seltenen Tagen, wo es „gut“ läuft, bin ich sicher, es zu schaffen, sie so lange wie möglich zu Hause zu versorgen. Im Grunde des Herzens aber weiß ich, dass ich für die häusliche Pflege meiner demenzkranken Mutter auf Dauer nicht geeignet bin. Auch nicht mit der Unterstützung von Ehemann und Tochter. Mehr und mehr wird sie zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens und Denkens.
Der Tag hat mich geschafft, die Aussage des Arztes erstickt jegliche Motivation. Nachdenklich räume ich den Tisch ab und setze mich erschöpft in der Küche auf einen Stuhl. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll!
Was ist es, das mir so zu schaffen macht? Der ungewohnte Lebensrhythmus? Der Einsatz rund um die Uhr? Die Nähe meiner Mutter? Ihr zunehmend herausforderndes Verhalten? Das Manifestieren ihrer, von mir als unangenehm empfundenen Charaktereigenschaften? Ihre Aggressionen? Die Ausweglosigkeit? Die Hoffnungslosigkeit? Ich weiß es nicht. Es ist wohl die Summe von allem.
Der erhöhte Betreuungsbedarf ist nur zu gewährleisten, wenn ich meine Berufstätigkeit weiter reduziere. Auch das setzt mir zu, denn ich liebe meine Arbeit.
Ich habe die Befürchtung, dass Mutter irgendetwas anstellt, wenn sie ohne Aufsicht und Betreuung ist, deshalb will ich sie nicht längere Zeit alleine zu Hause lassen. Nahrung erhält diese Angst durch einen Vorfall. In meiner Abwesenheit hatte sie eine Schachtel Streichhölzer gefunden. Keine Ahnung, wie die in ihren Besitz kamen, denn ich war mir sicher, dass sich Gefahrenquellen wie Zündhölzer oder Feuerzeuge nicht mehr in ihrer Nähe befanden. Erfolglos hatte sie versucht, die Hölzchen anzuzünden, die abgebrochen verstreut auf dem Wohnzimmerteppich lagen. Nicht auszudenken, wenn es ihr gelungen wäre.
In allen Bereichen meines Lebens ist spürbar, dass es so nicht weitergehen kann. Inzwischen sind Schlafstörungen, Magenschmerzen, Konzentrationsprobleme meine täglichen Begleiter. Ich bin nicht mehr ich selbst. Meine gereizten Nerven lassen mich den Blick für die Realität verlieren. Bin ich nur kurz außer Haus und höre ein Martinshorn, sehe ich unser Haus in Flammen stehen, Mutter im Hemd auf die Straße laufen oder sie weinend und verängstigt in der Ecke sitzen. Komme ich abgehetzt zurück, steht sie meist singend vor dem von mir eingeschalteten Radio und freut sich, dass ich da bin.
Heute Morgen habe ich mich über meinen Anblick im Spiegel erschrocken. Die Nachbarin hat recht. Ich sehe verdammt fertig und um Jahre gealtert aus. Ich habe an nichts mehr Freude. Keine Interessen, weder am Sport noch an irgendwelchen Unternehmungen oder kreativen Hobbys, denen ich bisher voller Begeisterung gemeinsam mit meinem Mann nachgegangen bin.
Ich stehe so sehr unter Anspannung, dass ich zeitweise das Gefühl habe zu explodieren. Mein Körper spielt verrückt. Ich friere und bin trotzdem nass geschwitzt. Beinahe täglich ist mir übel. Der Auslöser ist mir durchaus bekannt. Aber wie ich es ändern oder abstellen kann, weiß ich nicht.
Vor Kurzem war ich beim Arzt. Dieses Mal ging es ausschließlich um mich. Natürlich fiel ihm mein schlechter Allgemeinzustand auf.
„Sie müssen sich etwas einfallen lassen mit Ihrer Mutter. Das geht so nicht weiter. Sie sollten sich Hilfe holen. Haben Sie mal über einen ambulanten Pflegedienst nachgedacht?“
Der Mann meint es ja gut, aber bitte, wobei soll mir denn ein Pflegedienst behilflich sein? Mutter bei ihrer Morgentoilette helfen oder mich abends unterstützen, wenn ich sie ins Bett bringe? Das ist nicht das Thema. Das schaffe ich auch alleine. Es geht um die Stunden dazwischen, um die Wochenenden, um eine kurze Auszeit, vielleicht auch mal Urlaub. Und was mir immer wieder durch den Kopf geht, was ist, wenn ich mal ernsthaft krank werde?
Ständig bin ich zwischen ihren und meinen Bedürfnissen hin– und hergerissen. Bin ich in unserer Wohnung, mache ich mir Gedanken darüber, was sie macht, so ganz allein. Bin ich bei ihr, sehne ich mich nach meinem eigenen Zuhause, meiner Familie oder nach der Möglichkeit, einfach mal für mich zu sein. Mein Leben scheint bei alledem auf der Strecke zu bleiben.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich glaube, ihr laufend eine Abwechslung bieten zu müssen, damit sie sich nicht langweilt, es ihr gutgeht und sie sich wohlfühlt. Vor allem, damit sie nicht einsam ist, denn ihr früherer Freundes- und Bekanntenkreis hat sich seit Bekanntwerden der Diagnose in Luft aufgelöst.
© Gabriela Zander-Schneider
Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung der Autorin Gabriela Zander-Schneider, 21.09.2019